Deutsche Innenstädte – Leben und sterben lassen? Ein Kommentar.

Kommt der Chef ins Redaktionsbüro und fragt: Was ist denn jetzt eigentlich mit den Innenstädten? Sterben die aus wegen des Onlinehandels oder nicht? Ach und: schreibt doch da mal was darüber, eure Meinung dazu würde mich interessieren.

Schon bei den fast blutigen Diskussionen am Redaktionstisch war klar, dass selbst in unserer kleinen Redaktion sehr unterschiedliche Meinungen, Vorlieben und Nutzerverhalten aufeinander treffen. Und auch, dass das ein sehr polarisierendes Thema ist. Und, dass zu diesem Thema schon so viel geschrieben, gesagt und prophezeit wurde, dass man mit den imaginären Glaskugeln von Wirtschaftsexperten, Ökonomen, Städteplanern und cleveren Marketingmenschen vermutlich ganze ausgestorbene Innenstädte füllen könnte.

Glaskugeln gehen aber schnell kaputt und Erschütterungen wird es in Zukunft viele geben. Sei das durch ein paar große Player, die mit dem Holzhammer neue Spielarten für Same-Day-Delivery in den Markt treiben oder mit dem Durchbruch cleverer Multichannel-Konzepte, die kleinere Läden als lokale Knotenpunkte wieder zu einer wichtigen Größe werden lassen. Alle diese Dinge laufen bereits, in verschiedener Ausführung. Hat man hier auf das falsche Pferd orakelt bleibt nach der Zündung nur noch ein Glaskugel-Scherbenhaufen. Deshalb werde ich, anstatt noch eine Glaskugel zu beschwören, mir lieber den Ist-Stand anschauen und mit dem dystropischen Hämmerchen vorab schon ein paar Utopien platzen lassen. Ich hole mal aus:

Wer Wind sät wird Sturm ernten

Es gab eine Zeit, da war die Preisspanne zwischen Internet und lokalem Handel sehr hoch. In den Läden gab es Fachpersonal, das bezahlt werden wollte, der E-Commerce hingegen lebte von den besseren Preisen durch den Verzicht auf Beratungsleistungen und den letztlich geringeren (Fach-)Personalkosten. Da der Verbraucher aber ein Fuchs ist, ging er erst zu den Profis in den Laden, ließ sich ausgiebig beraten und lachte sich ins Fäustchen, als er dann zu Hause das Produkt für 20 % billiger im Internet bestellt hat. Vermutlich war sogar dem naivsten Milchmädchen klar, dass das auf Dauer so nicht laufen kann, aber es war einfach zu verlockend. Die Retourkutsche des Handels folgte schleichend und von vielen unbemerkt – aber sie folgte. Heute ist der Preisunterschied zwischen Internet und Laden, wenn überhaupt vorhanden, meist marginal. Was ist geschehen? Kurz gesagt: Die Verkäufer-Flitzpiepen-Dichte im deutschen Einzelhandel ist exponentiell angestiegen.

Google, der freundliche Technikexperte

Der Handel hat den Spieß umgedreht. Er lockt die Leute mit denselben Preisen wie oder manchmal sogar noch besseren Preisen als im Internet wieder in die lokalen Geschäfte. Der Kunde hat in jedem Fall den Vorteil, dass er sein Produkt sofort in den Händen hält und nicht zwei bis drei Tage warten muss. Wer aber heute etwas über ein Produkt erfahren möchte, ist gut beraten, wenn er sich vor seinem Einkauf selbst ausgiebig informiert. Wer darauf pfeift, zahlt meist entweder einen zu hohen Preis oder bekommt ein Produkt verkauft, das überhaupt nicht seinen Anforderungen entspricht. Häufig geschieht das nicht einmal mutwillig, denn der Fachmann von damals ist heute oftmals ein Student, der in der Filiale der Elektronikkette „als overdresseder Lagerarbeiter im stationären Lager“ dem Kunden die Beschreibung auf dem Preisschild vorliest, anschließend das Produkt aus dem Lager holt und verkaufsfertig macht. Die Informationspflicht und somit die komplette Beratung wurde auf den Verbraucher abgewälzt, dafür gibt’s jetzt Preise wie im Internet. Auge um Auge. Und man kann nicht einmal richtig böse sein, denn diesen Krieg hat Lieschen Müller selbst etwa Mitte des letzten Jahrzehnts angefangen. Ja, es gibt ihn natürlich noch, den motivierten, gut ausgebildeten, informierten Einzelhandelsmitarbeiter. Immer wenn ich einkaufe, macht er anscheinend aber gerade Vertretung in einer anderen Abteilung.

Die Filiale von heute ist das Lager von heute Nachmittag

So weit, so bekannt. Vermutlich hat jeder diese Erfahrung bereits am eigenen Leib gemacht und mehr oder weniger teuer bezahlt. Das Hämmerchen senkt sich, wenn man in diesem Kontext die aktuelle Entwicklung betrachtet. Dann bemerkt man beim nächsten Städtetrip wieder einmal, dass in deutschen Großstädten gefühlte 80 % der Läden von Stadt zu Stadt identisch sind. Und alle funktionieren nach diesem Prinzip, ob Elektronik, Mode oder Sportsachen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist die Innenstadt von heute ein gigantischer Lagerverkauf der großen Handelsketten geworden. Und plötzlich wird klar, dass Same-Day-Delivery kein Hirngespinst ist. Die Hersteller haben sich nahezu unbemerkt dezentrale Lagerhäuser mit günstigem Personal in unmittelbarer Nähe des Kunden geschaffen und müssen ihre E-Commerce-Bestellungen bald nichtmehr einzeln über die Autobahn und die großen Postverteilzentren ausliefern. Kommissioniert wird dann im Markt vor Ort, von dem Personal, das weniger im Verkauf zu tun hat, wenn dank Same-Day-Delivery weniger Kunden in die Läden kommen. Ergo: diesen großen Märkten (also den gefühlten 80 % der deutschen Innenstädte) ist es in Zukunft ziemlich egal, ob die Kunden die Sachen selbst abholen kommen oder für gutes Geld (am selben Tag) geliefert bekommen. Sicher gibt es billigere Lagerstandorte als die Innenstadt. Die Differenz wird aber vermutlich aus dem Marketingbudget beglichen, denn die Präsenz im Kern zeigt Stärke und es wird immer die Leute geben, die vor Ort einkaufen und danach die Tüten werbewirksam durch die Stadt tragen.

So Chef… was soll ich sagen… die Innenstadt ist nicht tot. Sie ist untot. Sie ist letztlich ein Zombie, der noch lebendig erscheint aber eigentlich kein Gehirn mehr hat um zu beraten, zu überraschen, zu begeistern. Und bekanntlich leben Zombis ewig. Sie sterben nur, wenn ihnen jemand eine Kugel in den Kopf jagt.

 

Bildrechte Teaserbild: Andrew Kuznetsov / CC BY 2.0