VDI-Richtlinien stellen seit Jahrzehnten gebündeltes Wissen zur Verfügung, das ausschließlich von Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft erarbeitet wird. Sie sind damit unverzichtbare und richtungsweisende Grundlagen für Praxis und Gesetzgebung. Günther Pfisterer, Projektleiter und Mitglied der Geschäftsleitung bei TUP, war Teil einer solchen Expertengruppe und steht im TUP-Interview zur aktuell auf den Weg gebrachten VDI-Richtlinie 3601 „Warehouse-Management-Systeme“ Rede und Antwort.
Der Verein Deutscher Ingenieure, kurz VDI, ist weltbekannt für seine Richtlinien. Warum benötigt man speziell die VDI-Richtlinie 3601 Warehouse-Management-Systeme? Sind die Kunden nicht zu individuell, um deren Wünsche in eine Fachliteratur für Warehouse-Management-Systeme zu zwängen?
Grundsätzlich will der VDI niemandem eine spezielle Richtlinie aufzwängen. Vielmehr beschreibt jede Richtlinie eine Orientierungshilfe für potenzielle Kunden. In unserem Fall bieten wir natürlich zusätzlich unser Know-how in ersten Gesprächen an. Doch mit der VDI-Richtlinie 3601 Warehouse-Management-Systeme (WMS) kann jeder sich im Vorfeld erste Informationen einholen. Neukunden können zum Beispiel individuelle Wünsche vorweg prüfen, ob diese in einer WMS-Landschaft realisiert werden sollten, oder eher nicht. Dazu erhalten Entscheider anhand der Richtlinie Hinweise, was bei einer beauftragten Realisierung beachtet werden muss. Und speziell für Neukunden und Interessierte beantwortet die Empfehlung VDI 3601 die beiden wichtigsten Fragen vorweg: Was ist eigentlich ein Warehouse-Management-System und was wird benötigt, um ein solches WMS erfolgreich einzuführen?
Auf den Punkt gebracht: Die VDI-Richtlinie 3601 Warehouse-Management-Systeme gibt mögliche Ausprägungen vor, welche für ein funktionierendes WMS, nach Ansicht der Experten, erfüllt sein sollten. In acht Kapiteln hat das Autorenteam aus Wirtschaft und Forschung zusammen mit dem Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML) das komplexe Thema der WMS neu strukturiert, entscheidende Begriffe und Funktionen definiert und damit eine wichtige Grundlage für die Auswahl und Einführung von solch komplexen Systemen geschaffen. Damit beantwortet der Verband gleichzeitig die Frage, ab wann man von einem WMS spricht.
Die Richtlinie hilft aus Prozess- und Funktionssicht, Ideen zu entwickeln und eine ordentliche Struktur für Lasten- und Pflichtenhefte bereitzustellen; eine Art Checkliste, damit auch nichts bei der Planung und während der Realisierung der Systemlandschaft vergessen wird.
Als Hauptgründe für die Investitionen in ein WMS nennt der VDI die Reduzierung der Fehlerraten, die Steigerung der Produktivität und die Erhöhung der Lieferbereitschaft. Wie ist das zu verstehen?
Um Fehlerraten zu minimieren, um die Produktivität sowie die Lieferbereitschaft zu verbessern, spricht die VDI-Richtlinie 3601, wie Eingangs schon erwähnt, speziell Neukunden an. Denn sie wollen in erster Linie ihre Logistik als Kernkompetenz ausbauen und suchen Anregungen und Empfehlungen, um das besagte WMS-Niveau zu erreichen. Hierfür haben wir nicht nur notwendige Begriffe und Abkürzungen definiert und beschreiben in unterschiedlichen Kapiteln das administrative und funktionale Umfeld eines WMS. Auch die üblichen Formen der Integration eines WMS in über- und untergeordneten IT-Systemen werden dem Leser näher gebracht. Damit gibt es erstmals eine klare Orientierung für Diskussionen zwischen Kunden und Lieferanten.
Die Expertengruppe, die die Richtlinie VDI 3601 entwickelt hat, bestand aus geballtem Know-how der Intralogistik. Wie muss man sich das Erarbeiten einer solchen komplexen Richtlinie vorstellen? Wie wird beispielsweise mit Unstimmigkeiten umgegangen? Es waren immerhin 90 Experten beteiligt.
Es glich hin und wieder einem fairen Ringkampf, wie etwa dem bei den Olympischen Spielen. Wenn soviel Wissen und Erfahrung an einem Tisch sitzen, ist meines Erachtens aber ein reger Austausch Pflicht. Entweder mit hundertprozentiger Übereinstimmung, aber gerne auch vorweg mit hitzigen Diskussionen. Stellen Sie sich einfach eine solche Expertenrunde als eine große Koalitionsrunde der Wirtschaft und Wissenschaft vor. Der Unterschied zur politischen Koalition? Wir verfolgen alle dasselbe Ziel. Wir mussten im Falle der VDI-Richtlinie 3601 lediglich eine gemeinsame Sprache definieren, um das bereits zuvor gesetzte Ziel zu erreichen. Persönliche Vorteile waren und sind tabu.
Wo genau liegen eigentlich die Funktionsschwerpunkte bei einem WMS? Welche besonderen Keyfacts der VDI-Richtline 3601 sind hervorzuheben?
Die Funktionsschwerpunkte sind mit der Richtlinie ab sofort klar definiert und beschreiben neben der eigentlichen Lagerstruktur auch die Stammdatenverwaltung, Bestandsverwaltung, Transportverwaltung sowie die Unterstützung der einzelnen Prozesse vom Wareneingang bis hin zum Warenausgang. Zudem ist die horizontale Integration zusätzlicher Prozesse von entscheidender Bedeutung. Diese können beispielsweise den Umgang mit Gefahrstoffen und Gefahrgut oder aber auch die Retouren und die Zollabfertigung im selben System berücksichtigen. Unter Umständen können solche oder ähnliche Prozesse an externe Subsysteme ‚abgegeben‘ werden.
Da ein WMS mit neuen Logistikprozessen samt zugehöriger Automatisierungstechnik selbst bei sog. ‚Grüne-Wiese-Projekten‘ in eine Landschaft aus bestehenden IT-Systemen (Bsp. ERP-System) und auch vorgegebenen Prozessen einzubinden ist, sieht die konkrete Ausgestaltung eines WMS immer wieder anders aus.
Wichtig ist nur, dass die ‚Struktur‘ des WMS mit einer sinnvollen Aufgabenteilung transparent und sinnvoll gewählt wird, um langfristig die Weiterentwicklung der IT-Prozesse zu ermöglichen, die Wartbarkeit sicherzustellen und ein Höchstmaß an Flexibilität für neue Kundenanforderungen zu erhalten. Ach übrigens, bei TUP arbeiten wir nach diesem Grundsatz bei der Projekt-Planung schon lange.
Den Mitschnitt des VDI-Vortrags auf der LogiMAT 2014 wurde während der Messe im Rahmen des VDI-Fachforums aufgezeichnet und beschäftigt sich speziell mit der „VDI-Richtlinie 3601 Warehouse-Management-Systeme„. Einfach den Link klicken und Sie gelangen zum Beitrag mit dem eingebetteten YouTube-Video.