Industrie 4.0 beschreibt derzeit den nachhaltig tief greifenden Wandel in Sachen unternehmerisches Handeln. Zumindest wollen uns so einige Futuristen das sogenannte „Internet der Dinge“ inklusive den ’nice to haves’ Big Data, Cloud-Computing, Smartphone und Datenbrille als eben dieses Industrie 4.0 schmackhaft machen. Keine Frage, durch das Internet getrieben, wachsen reale und virtuelle Welt immer weiter zusammen: eine persönliche Einschätzung.
Die Welt habe einen Bedarf von vielleicht fünf Computern, soll der frühere Vorstandsvorsitzende von IBM, Thomas J. Watson (1874-1956), einmal gesagt haben. Was würde er wohl von der aktuellen Hard- und Softwareentwicklung halten? Zur damaligen Zeit hätten öffentliche Wahrsagungen zu den Themen Industrie 4.0 und Internet der Dinge, wenn diese damals schon präsent gewesen wären, wahrscheinlich eine weiße Weste sowie Vollpension in der Psychiatrie zur Folge gehabt. Aber was bedeutet eigentlich Industrie 4.0, was das Internet der Dinge?
Industrie 4.0 + Internet der Dinge = ?
Laut des Fraunhofer Instituts beschreibt Industrie 4.0 die intelligente Vernetzung von Produktentwicklung, Produktion, Logistik und Kunden. Es geht auch um die intelligente Zusammenarbeit verschiedener Branchen in Verbindung mit einer Optimierung von Wertschöpfungsketten und industriellen Prozessen. Dabei werden in Zukunft immer weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, gleichzeitig aber weiterhin die maximale Wertschöpfung gefordert. Die RWTH-Aachen definiert den Begriff ähnlich: „Im Unterschied zu den vorangegangenen industriellen Revolutionen, bedingt durch die Einführung mechanischer Produktionsanlagen, die Erfindung von Fließbändern und den Einsatz von IT und Elektronik, die vergleichsweise abrupt erfolgten, vollzieht sich die vierte industrielle Revolution auf vielen Ebenen. Betroffen sind Technologien, Systeme und Prozesse in ihrem komplexen Zusammenspiel.“
Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt – Kurt Schwitters, Individualist und Künstler
Futuristen, Experten, Berater
Glaubt man einigen „Experten“, verschläft Deutschland gerade die vierte technische Revolution. Andre Tauber etwa berichtet in seinem Artikel „Deutschland droht die Zukunft zu verschlafen„, dass „Industrie 4.0 in Deutschland noch keine echte Flughöhe erreicht hat. Das Thema sei wie ein Jumbojet, der nur wenige Meter über der Erde schwebt.“ Gleichzeitig nennt er das Unternehmen Uber eine vernetzte Revolution – was das zusammen allerdings mit Industrie 4.0 zu tun hat, wird nicht verraten. Es ist doch so: In den meisten Artikeln kommen Futuristen alias die Berater zu Wort, die versuchen, den Begriff für sich neu zu erfinden, sogar neu zu definieren. „Hauptsache vernetzt, Industrie 4.0 kommt dann schon von alleine“. In ihren Ausführungen prangern sie den fehlenden Fortschritt hierzulande an, „schlechte“ Beispiele werden allerdings nicht genannt. Sie hieven lieber das Thema absichtlich auf die höchste Entscheider-Ebene, in der Hoffnung, auch in Zukunft mit gut honorierten Berateraufträgen ausgestattet zu werden und nutzen so das Nichtwissen einiger Unternehmen schamlos aus. In meinem Fazit haben ich dazu noch so einen Spezialisten verlinkt, der ebenfalls Dinge voraussetzt, die nicht einmal in den USA als Standard beschimpft werden.
Dabei hat Industrie 4.0 tatsächlich das Zeug dazu, unsere industrielle Wertschöpfung so zu verändern wie das Internet die Wissensarbeit. Ein Grund, warum auch die CeBIT in Hannover, das Thema ins diesjährige Messeprogramm aufgenommen hat. Die Entscheider vor Ort sind sich sicher, „die vierte industrielle Revolution hat längst begonnen. IT-Systeme bilden heute die Basis für komplexe Produktions-, Verfahrens- und Steuerungsabläufe; und in zahlreichen Industrien werden sie bereits eingesetzt“, so der gemeinsame Kontext der Experten. Auf der weltweit größten IT-Messe in Hannover werden daher neben Big Data und dem Cloud-Computing erstmals auch die digitale Transformation von Fabriken sowie das Internet der Dinge im Detail thematisiert.
Industrie 4.0: eine Mischung aus 4.0 und Lean-Industry
Was viele nicht wissen: Seit Jahren findet diese „Revolution“ in der Produktion und Intralogistik, dem Materialfluss innerhalb eines Distributionscenters, statt. Der Mittelstand in Deutschland hat bereits begonnen, seine industrielle Umgebung zu vernetzen – es fehlt lediglich der globale Schritt ins Internet. „In den Fabriken, in der Produktion ist der Mensch bereits als Dirigent der Wertschöpfung aufgestiegen“, so Johann Soder, Technik-Geschäftsführer von SEW-Eurodrive. Und Soder weiß wovon er spricht. Mein Redaktionskollege Andreas Plöger hat ihn auf den Vision-Days 2015 in München getroffen und war von Soder schwer beeindruckt. „Speziell seine Vision, aus der Vernetzung von Werkzeug, Werkstück und Intralogistik einen fließenden Prozess zu kreieren, ist bewundernswert. Seiner Meinung nach ist Industrie 4.0 auch nicht die so oft verkündete Revolution, eher eine Möglichkeit, die Arbeitsabläufe und das Unternehmen als solches in Zukunft effizienter und ergonomischer zu gestalten – im Stile einer Evolution“, so Plöger.
Ein Beispiel: In seinem Werk Graben-Neudorf in Bruchsal setzt Soder bei sogenannten Produktionsprozessen auf Montageassistenten. Das sind mobile Systeme, die Werkstücke tragen, die einzelne Arbeitsstationen anfahren, dort mit Regalen kommunizieren und den Handwerker darauf hinweisen, baue/befestige dieses Teil an diese Stelle. Sie unterstützen den Menschen durch eine ständige Interaktion zwischen Mensch und Maschine. „Wir verheiraten den mobilen Montageassistenten mit dem Kundenauftrag und konfigurieren damit gleichzeitig den Assistenten zum Cyber-Physical-System“, ergänzt Soder seinen persönlichen Mix aus 4.0 und Lean-Industry. Letzteres beschreibt den Unternehmensgedanken, Produkte in hoher Qualität und in kleinen Stückzahlen so herzustellen, dass auch die industriellen Prozesse (Produktion, Logistik) so effizient arbeiten, dass jegliche Verschwendungen von Material, Energie und Arbeitskraft vermieden werden.
Intralogistik: et voilà Industrie 4.0
Ähnlich läuft es derzeit in der Logistik, speziell in der Intralogistik; meinem persönlichen Steckenpferd. In einigen Teilbereichen dort, sind ständig Interaktionen zwischen Mensch und Maschine sowie die Maschine-zu-Maschine-Kommunikation zu beobachten.
Sie sind demnach nicht neu, vielmehr wurden sie in den letzten Jahren in der Forschung als besagte einzelne Themen bearbeitet und fließen erst jetzt via Industrie 4.0 zu der wandelbaren Fabrik zusammen. Dennoch, „sich ausschließlich auf die Technologieentwicklung zu beschränken wäre zum jetzigen Zeitpunkt ein falsches Zeichen. Nur wer die Prozesse und die dahinter agierenden Dienste inklusive den dazugehörigen Informationsflüssen versteht; darf tatsächlich von der Revolution träumen“, ist sich Julia Hodecker, Wirtschaftsingenieurin und Projektleiterin bei TUP, sicher. Die Softwareschmiede aus Karlsruhe hat sich als Materialfluss-Experte einen Namen gemacht und entwickelt individuelle Lagerverwaltungssoftware für Großprojekte; unter anderem für adidas, Zalando und Bosch.
„Erst wenn Maschinen und Produkte tatsächlich miteinander kommunizieren, ihre eigenen Prozesse untereinander abstimmen, ohne dass Menschen oder Computer eine koordinierende Funktion übernehmen, wird die Vision von Industrie 4.0 Wirklichkeit – derzeit ist diese, wegen fehlender Intelligenz, nur in Teilabschnitten möglich“, so Hodecker weiter. Auf den Punkt gebracht: Die Intelligente Fabrik besteht aus mehreren Bausteinen. Smarte Produkte transportieren Informationen, kommunizieren an den jeweiligen Punkten mit einem hybriden und störungsfreien Produktions- und Fördersystem – sind diese perfekten Prozessabläufe zudem automatisiert: et voilá Industrie 4.0.
Sicherheit: Stuxnet-Wurm ist noch in den Köpfen
Und die Sicherheit? Nun ja, verknüpft man die Industrie mit dem hochgelobten Internet der Dinge, kann letzteres auch auf die Industrie 4.0 zugreifen. Das birgt in der Folge Sicherheitsrisiken im Hinblick auf den Datenschutz, dem Schutz des eigenen Know-how und zudem sind fortan Manipulationen der Produktionssysteme von außen ein Thema – man denke nur an den Stuxnet-Wurm, der das iranische Atomprogramm sabotierte. Besonders die Cyber-Physical-Systems sind anfällig und können „gehackt“ ganze Produktionsketten lahm legen. Denial-of-Service-Attacken, die unberechtigte Nutzung von Fernwartungszugängen und Angriffe auf Standardkomponenten werden also mit zunehmender Vernetzung Hochkonjunktur bekommen. Wir sprechen von möglichen wirtschaftlichen Schäden in Milliardenhöhe.
Addiert man zudem noch die stillen Teilnehmer Big Data, die Cloud, das Smartphone sowie die Datenbrille hinzu, wird das Loch, welches es sicherheitstechnisch zu stopfen gilt, nicht kleiner. Verzichten wird man allerdings auf diese Arten von intelligentem Datenmanagement nicht. Denn während des jeweiligen Prozesses sammeln Unternehmen Daten, machen diese Maschinen-lesbar, werten diese aus und leiten auf Grund von Datenanalysen Ereignisse und Aktionen ab. Mitarbeiter können daraufhin Rückschlüsse ziehen, wie man den eigentlichen Prozess weiter verbessern kann. Digital gesehen ist das sogenannte Data-Mart ein nicht endender Informationskreislauf.
Mein persönliches Fazit
Der Mittelstand hierzulande ist meines Erachtens bestens gerüstet und rüstet in Sachen Industrie 4.0 auch weiter auf. Lediglich am Tempo darf sich gerne etwas ändern, vorausgesetzt, die Sicherheit der industriellen Systeme ist gewährleistet.
Und die Kritiker? Sie sind meist von Verbänden oder Unternehmen engagiert, die beratende Funktionen innehaben haben. Oder sie schreiben Artikel wie Henrik Müller „Deutschland ist für die digitale Revolution nicht gerüstet„. Müller, immerhin Professor für wirtschaftlichen Journalismus an der Uni Dortmund, kritisiert in diesem die angebliche Überheblichkeit deutscher Wirtschaftsunternehmen. Er fokussiert sich allerdings gleichzeitig auf eine Studie zweier Oxford-Mitarbeiter, die für den US-Arbeitsmarkt schwarzsehen – natürlich wegen der digitalen Revolution. Gleichzeitig projiziert er deren Ergebnisse auf Europa, sieht das autonome Fahren bereits als Standard, auf den Meeren fahren seiner Meinung nach in Kürze vollautomatische Frachtschiffe, die die Crew und den Kapitän überflüssig machen und Handwerker werden auch nicht mehr benötigt; weil wir ja alle 3D-Drucker haben. Letztere übernehmen dann wohl auch den Einbau des Siphons beziehungsweise installieren die Küche direkt nach dem Ausdruck – inklusive der Elektronik.
Henrik Müller und seine Mannen befinden sich meines Erachtens auf Zeitreise, katapultierten sich vor Jahren bereits in die Zukunft. Sie sollten aber endlich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. So gestalten wir die Zukunft bereits neu und ja, sie wird so ähnlich ausschauen, wie Müller sie gerne hätte. Sprich, die digitale und industrielle Evolution hat bereits begonnen, sie benötigt lediglich mehr Entwicklungszeit als von den selbsternannten Experten gedacht. Eben weil von industriellen Prozessen mehr Robustheit und Zuverlässigkeit erwartet werden.
In Zukunft werden Fabriken sich über eine intelligente Automatisierung tagtäglich verändern, sich dem Markt anpassen. Und der Mensch wird tatsächlich zum Dirigenten der Wertschöpfung. Er kommuniziert erstmals mit der Maschine und wird ein Teil der Industrie 4.0 – komplett ersetzt wird dieser in meiner Zukunft nie. Und das Internet der Dinge dient dabei meiner Meinung nach lediglich als Schnittstelle, als eine Art Erweiterung, die Kommunikation auf Wunsch grenzenlos zu gestalten. Aber wie Anfangs erwähnt, ist das meine persönliche Einschätzung.
Teaserbild: Werner Wittersheim / CC BY-NC 2.0
Bildinformation: Der KHT-Kommissionier-Robotor bei GLS. Er kommissioniert komplett automatisiert einzelne Arzneien samt ihrer Verpackungen zu einer Bestellung. Fotos: Markus Henkel/TUP
Zur Info: Der Artikel ist in der 13. Kalenderwoche 2015 „exklusiv“ auf dem Tech-Blog MobileGeeks erschienen.