Wir sind uns hoffentlich einig: Kein anderes Wearable hat in jüngster Zeit für mehr Schlagzeilen im industriellen Bereich gesorgt, als die Datenbrille Google Glass? Auch wenn die erste Version von Google Glass bereits Geschichte ist; Datenbrillen erleben derzeit einen Hype. Doch wieviel Potenzial steckt für die Intralogistik tatsächlich in den Wearables? TUP durfte die Google Glass 1 in einem Praxisbeispiel begutachten und schaut somit direkt in die Glaskugel beziehungsweise Datenbrille.
Tester & Begutachter von DR. THOMAS und PARTNER waren:
- Eugen Druta – Entwickler und Physiker
- Stefan Fehrenbach – Projektleiter und Wirtschaftsingenieur
- Dr. Roman Roth – Projektleiter und Maschinenbauingenieur
- Andrei Colegiu – Logistikplaner und Bauingenieur
Ich möchte auf diesem Wege der Industrie 4.0 und dem Internet of Things (IoT) danken. Denn meines Erachtens werden wir in Zukunft sogenannte Wearables, allen voran die Datenbrille, innerhalb industrieller Anwendungen regelmäßig zu Gesicht bekommen beziehungsweise sogar selbst nutzen. Ohne die 4.0-Begrifflichkeit und dem IoT als Zugpferde würde meines Erachtens ein praktischer Einsatz wohl noch als Zukunftsmusik erklingen.
Grundsätzlich gilt: Eine Datenbrille alleine ist derzeit aufgrund ihrer Bauform und dem damit geschuldeten kleinen Leistungsspektrum (wenig Speicher, geringe Rechenleistung) in ihren technischen Möglichkeiten stark eingeschränkt. So gibt sie lediglich Information wie Text, Bild, Video und Ton aus; als Eingabe dienen Tasten, Sprachsteuerung, Gesten und Kamera. Eine Verarbeitung und Aufbereitung von großen Datenmengen mittels Datenbrillen stößt derzeit schnell an Grenzen.
Datenbrillen in der Intralogistik
Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel und zeigen auf, wohin die Reise geht. Nach einer erfolgreichen Testphase setzt beispielsweise der Aachener Kosmetikhersteller Babor in seiner Lagerhaltung auf Datenbrillen aus dem Hause Google (Google Glass 1) und bestückt diese mit Software von Logcom. Laut Logcom sind die Pick-Varianten „by Voice“ und „by Light“ in der heute sich immer schneller drehenden Logistikwelt nur noch eingeschränkt einsatzbar – Lieferungen innerhalb von 24 Stunden und besonders schnelldrehende Güter gehören heutzutage zum Standard. Die Logcom-Datenbrille Picavi verfolgt daher den Pick „by Vision“; die Kommissionierung via Datenbrille.
Google Glass 1, interpretiert von Logcom
Als Basis setzt Logcom auf die Android-Datenbrille Google Glass 1. Die zweite Version des Wearable steht allerdings nach eigener Aussage bereits in den Startlöchern und wird derzeit ausgiebig getestet. Die beiden größten Nachteile vorweg: Die jetzige 60-Gramm leichte Version verfügt über einen leistungsschwachen Akku (2-3 Stunden) und ist hardwaretechnisch ein wenig schwach auf dem Chip. Das Gerät ist daher „nur“ als Client sowie als leistungsschwaches Smartphone ohne SIM-Karte nutzbar. Die Datenbrillen können nach eigenen Angaben längere Zeit offline agieren und führen die Dialogführung inklusive Scan-Intelligenz on Board. Es können demnach mehrere Aufträge ohne WLAN-Verbindung abgearbeitet werden. Auf der einen Seite praktisch, wenn etwa ein Funkloch die Datenübertragung verhindert; die Aktualität der Daten leidet allerdings erheblich darunter. Hinsichtlich der schwachen Akkulaufzeiten hat Logcom einen externen Akku-Pack entwickelt, den der Kommissionierer während seiner Rundgänge mitführt. Dieser ist über ein am Rücken verlaufendes USB-Kabel mit der Brille verbunden und versorgt diese so mit der nötigen Energie. Der Akkupack verfügt zudem über eine integrierte Tastatur, vier Cursortasten plus zentralem Push-Button. Eine Android-App für die Brille bildet die einzelnen Prozessabläufe ab.
Picavi: Pick by Vision in der Praxis
Die gesamte Prozessführung wird laut Logcom über das Display der Datenbrille geleitet. Auf dem Display sieht der Kommissionierer nur die aktuell relevanten Informationen und wird nach eigenen Angaben zielsicher durch den jeweiligen Arbeitsprozess geleitet. Es werden beispielsweise Art und Menge der Waren für den aktuellen Pick angezeigt. Die Brille selbst wird als Barcode-Scanner verwendet, der den richtigen Stellplatz anhand eines dort angebrachten Barcodes erkennt. Der erwähnte Scanner schließt, wie auch beim Einsatz klassischer MDEs, Fehler (falsches Artikelfach, falscher Artikel) weitestgehend aus. Da die Brille über das WLAN verbunden ist, erhält sie nötige Informationen zum Artikel vom Lagerverwaltungssystem. Zudem wird, durch die Kopplung mit dem Materialflussrechner, dem Kommissionierer die jeweils beste Route angezeigt – so zumindest zeigt uns das Logcom nachträglich im eingebetteten Video. Ist der Auftrag abgefertigt, zeigt das Gerät den nächsten an; die Latenzen der neuen Auftrage bewegen sich dabei aber noch im Sekundenbereich.
Das funktionierte in der Praxis recht gut. So wurde uns anhand von Palettentransporten in einem Spur-geführten Schmalgangstapler-Lager die Datenbrille im realen Betrieb beim besagten Kosmetikhersteller Babor vorgeführt. Wir durften auf einem der HRL-Stapler mitfahren und dem Mitarbeiter über die Schulter schauen. Was uns dabei gut gefallen hat: der Mitarbeiter hatte fast immer seine beiden Hände frei. Was ein wenig überraschte: Der Mitarbeiter setzte erst kurz vor dem Scan die Datenbrille auf. Zudem wird der eigentliche Scan durch einen Tastendruck an der Brille ausgelöst, erst dann kann die Kamera beziehungsweise der Scanner auslösen. ‚Hands free‘ sieht natürlich anders aus.
Auch das Zielen auf den Barcode ist gewöhnungsbedürftig. Die Kamera ’schielt‘ leicht nach unten auf das Objekt und das eingeblendete Kamerabild liegt nicht mittig im Blickfeldes des Mitarbeiters. Uns schien es, als sei die integrierte Kamera für einen Barcode-Scan in der besichtigten Konfiguration noch zu kompromissbehaftet. Dennoch, der Staplerfahrer arbeitete recht flüssig und der Barcode-Scan schien für ihn kein Problem darzustellen. Die Anzeige selbst ist zirka sechs Textzeilen (auch Grafiken) klein und wird auf den rechten oberen Quadranten des rechten Brillenglases projiziert. Was uns leider fehlte, war eine zügige Kommissionierung. Nach eigenen Angaben sind die Mitarbeiter in der Lage einen Pick innerhalb von drei Sekunden abzuwickeln – gesehen haben wir diese Leistung aber nicht, da wir die Brille nur im HRL begutachten konnten.
Unser Fazit:
Die Zukunft gehört den Datenbrillen. Nach unserer Einschätzung wird die Einführung eines robusten und leistungsstarken Wearable aber noch drei bis fünf Jahre dauern. Die Technik, speziell im Hinblick auf die Datenverarbeitung, steckt derzeit noch in den Kinderschuhen. Das hat auch einen entscheidenden Grund: Die Brille ist eigentlich für andere Anwendungsfälle im Consumer-Bereich entwickelt worden. Ein Beispiel: Der Scanner der Google Glass 1 scannt ab einer minimalen Entfernung von 50 Zentimetern – Entfernung und Scan sind dabei immer in Abhängigkeit mit der Barcodegröße zu bringen. Da allerdings auch direkt aus dem HRL-Stapler gescannt wird, liegen Barcodes in Bodennähe oftmals im toten Winkel. Sprich, alles in Augenhöhe stellt keine größeren Herausforderungen dar. Muss ein Barcode in Bodennähe gescannt werden, ist der Mitarbeiter gezwungen, die Ware zu sich zu führen. Ein Grund, warum bei Logcom die Option im Raum steht, einen externen Scanner mit sich zu führen.
Aussicht bei TUP
Um eine hinreichende Einschätzung zum Thema Vision abzugeben, testen wir aktuell die Datenbrille M100 von Vuzix. Einen Vergleich beider Brillen werden wir daher als Update in den nächsten Tagen nachreichen.
Teaserbild: Tim.Reckmann / Lizenz: CC BY-SA 3.0