Es ist die Königsdisziplin in der Intralogistik: Die Ablösung eines Warehouse Management Systems (WMS) im laufenden Betrieb. Jeder noch so kleine Fehler, jede Minute Stillstand schlägt beim Kunden unmittelbar zu Buche. Die Brisanz steigt folglich exponentiell mit Größe und Durchsatz des Unternehmens, das seine Prozesse in die Hände eines Retrofit-Dienstleisters legt. Entsprechend groß waren die Erwartungen der Verantwortlichen von Bosch Automotive Aftermarket (Bosch AA) an die Intralogistik-Spezialisten von DR.THOMAS + PARTNER (TUP) aus Karlsruhe, als die Umstellung auf das modernisierte Logistik-System bevorstand.
Und sie wurden nicht enttäuscht – bereits am ersten Tag nach der Systemumstellung arbeitete das Lager wieder mit der gewohnten Ausstoßleistung.
Ein weltweites Netzwerk
Der Geschäftsbereich Automotive Aftermarket von Bosch verantwortet weltweit die Bereitstellung sowie den Verkauf und die Logistik von Kfz-Teilen für den Service am Fahrzeug. Eine der Aufgaben des Logistikzentrums in Karlsruhe ist die Belieferung der Bosch-Kunden – das sind Zentralen der Kfz-Hersteller sowie Großhandel und Werkstätten – mit einem breit gefächerten Ersatzteilsortiment, das von Karlsruhe aus in 140 Länder verschickt wird. Der Bereich steuert zudem 24 weitere Lagerstandorte weltweit.
Das Logistikzentrum in Karlsruhe garantiert, dass fehlende Teile in 24 Stunden innerhalb Europas und 96 Stunden in jedem Ort der Welt sind. Ein Eingriff in diese laufenden Prozesse gleicht einer Operation am offenen Herzen, würde ein Ausfall der Supply-Chain doch weltweite Auswirkungen nach sich ziehen.
Kniffliger Eingriff in eine eng verwobene Systemlandschaft
Die Aufgabe war äußerst brisant: Ablösung eines zwölf Jahre alten, hoch-komplexen Warehouse-Management-Systems mit Anschluss an ein übergeordnetes SAP-Host-System und vielen unterlagerten Gewerken wie Prozessrechner und Datenkonzentratoren. „Stellen Sie sich vor, Sie haben die Aufgabe, bei einem fertigen Cheeseburger die Frikadelle zu tauschen, ohne dass jemand etwas davon merkt und er am Schluss mindestens so gut schmeckt wie zuvor“, abstrahiert Jörg Behrend, einer der beiden Projektleiter des Bosch-AA-Projektes, mit einem Augenzwinkern das Szenario und verbildlicht damit auf sehr anschauliche Weise die Herausforderung eines derartig umfangreichen Retrofit-Großprojektes. Über Jahre gewachsene, miteinander verschmolzene Systeme und Prozesse mussten erst identifiziert dann dekomponiert und schließlich in höchster Präzision angepasst oder ersetzt werden.
Doch damit nicht genug – die Anforderung war, das WMS im laufenden Betrieb zu ersetzen. Das bedeutete für alle Projektbeteiligten: Es blieb ein Wochenende um die Schalter umzulegen und alle auftauchenden Hindernisse bei der Umstellung aus dem Weg zu räumen, um zu Schichtbeginn wieder unter Volllast fahren zu können.
So war im Vorfeld, neben der exakten Planung und Entwicklung, ein außergewöhnlich feingranulares Test-Management erforderlich. In enger Zusammenarbeit mit Mitarbeitern von Bosch, die extra zu diesem Zweck ein eigenes Testing-Team formierten, wurden über Monate unzählige Testszenarien erarbeitet und durchgespielt, die Schnittstellen zu den verschiedenen Fremdsystemen getestet und verbessert und der tatsächliche Live-Betrieb simuliert. „Letztlich muss man für jedes Projekt eine eigene Aufwand/Nutzen-Rechnung aufmachen, wie feingranular das Testing ausfallen soll. In diesem Fall war es aber zum einen eine ganz klare Anforderung des Kunden, alle Eventualitäten auf Herz und Nieren zu testen, zum anderen war es auch unsere Versicherung, sofort den erwarteten Durchsatz des Lagers zu erreichen“, erklärt Behrend.
Die Mühe hat sich gelohnt, denn die Umstellung verlief ohne Komplikationen und die Anlage konnte bereits am nächsten Tag die gewohnte Leistung erbringen.
Die Ablösung des Warehouse Management Systems ist nur der Grundstein
Die Modernisierung der Lagerverwaltungssoftware war jedoch nur der Anfang eines deutlich umfangreicheren Gesamtprojektes. „Das Retrofit des WMS war sozusagen Grundsteinlegung und Startschuss für einen komplexen Modernisierungsumbau bei Bosch am Standort Karlsruhe“, erklärt Günther Pfisterer, Projektleiter und Mitglied der TUP-Geschäftsleitung. „Daher haben wir im Zuge der Modernisierung auch die logistischen Abläufe optimiert und neue Strukturen geschaffen, um kommende Erweiterungen sowie Neu- und Umbauten im Anschluss reibungslos integrieren zu können.“
Zeit zum Ausruhen bleibt also nicht. Nach der erfolgreichen Inbetriebnahme des Lagerverwaltungssystems folgt jetzt die Eingliederung des Hochregal-Lagers samt dessen im Bau befindlichen Erweiterung. Ein weiterer Meilenstein und doch nur eine von vielen Migrationsstufen, die bis 2018 erfolgreich umgesetzt werden wollen.
„In den nächsten Etappen wird schrittweise die komplette Logistikachse des Standortes gedreht und neue Fördertechnik eingebunden. Der komplette Prozess im Logistikzentrum, inklusive des gesamten Materialflusses unterhalb des ERP-Systems, wird zukünftig über die Logistik-Systeme von TUP gesteuert und überwacht. Das geht bis hin zu einem Shuttle-Lager, welches wir über unseren Materialflussrechner (MFR) steuern werden“ zeigt Behrend die nächsten Projektschritte auf.
Mit Blick nach vorne: Leitstand und Monitoring gewinnen zunehmend an Bedeutung
Ein besonderes Augenmerk liegt auch in den kommenden Projektphasen auf den Themen Leitstand und Monitoring. Um die Prozesse überwachen und kontinuierlich verbessern zu können, werden von der Anlage eine Vielzahl an Kennzahlen und Key Performance Indicators (KPI) erfasst und grafisch aufbereitet. „Die Menge an Daten, die bei Bosch AA ausgewertet werden, liegt schon jetzt weit über dem, was man als Branchen-Standard im WMS-Bereich bezeichnen könnte“, erklärt Günther Pfisterer. Damit gibt Bosch auch klar die Marschrichtung vor: Eine hoch-transparente Anlage mit Zugriff auf die KPI der einzelnen Geschäftsprozesse ist bestens aufgestellt für die Herausforderungen der aufkommenden Industrie 4.0-Bewegung, die in den nächsten Jahren noch verstärkt für Furore sorgen wird. Speziell im Hinblick auf die internationale Supply-Chain werden so wichtige Weichen in Richtung Zukunft gestellt.
Auch die Zahlen seitens des TUP-Systems sind durchaus beeindruckend und verdeutlichen die Dimensionen des Auftragsvolumens: Über 3,5 Millionen Code-Zeilen in der TUP-Software, knapp 200 System-Dialoge und ca. 130.000 protokollierte Aktivitäten pro Tag. „In diesem Projekt hat TUP mal wieder bewiesen, dass eine Umstellung unter laufendem Rad – selbst mit äußerst anspruchsvollen Randbedingungen – durchaus ohne Leistungsverluste vollzogen werden kann“ resümiert Behrend.