Automatisierung hält Einzug in immer mehr Lagerstandorte. Herzstück aller hochautomatisierten und weniger automatisierten Lager ist der Materialflussrechner (MFR), auch Materialflusssteuerung. Diese Technologie wird bereits seit den 1980er Jahren eingesetzt, um die Abläufe, beispielsweise bei der Ein- und Auslagerung, zu optimieren. Clemens Gutbrod, MFR-Chefentwickler bei der Software-Manufaktur TUP (TUP), gibt einen Überblick über die Trends innerhalb von Materialflusssteuerungen. Seiner Meinung nach werden sich speziell die Materialflüsse – auch vor dem Hintergrund von IoT und KI – immer weiter wandeln.
Herr Gutbrod, lassen Sie uns einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen: Wie hat sich die MFR-Technologie in den letzten 20 Jahren entwickelt? Gibt es gravierende Veränderungen? Oder gibt es viele Dinge, die noch Bestand haben?
Clemens Gutbrod: Technologisch hat sich aufseiten des MFR nicht viel verändert. Vielmehr haben sich die Geschwindigkeiten innerhalb des Materialflusses geändert. Die Reaktionszeiten sind heutzutage ganz andere. Vor 20 Jahren hat ein MFR noch fünf bis sechs Sekunden für eine Entscheidung gebraucht. Damals fuhren Paletten auch nur mit einem halben Meter pro Sekunde über die Förderanlage, heute werden drei Meter pro Sekunde gefahren. Dank der heutigen Rechnerleistung und leistungsstarken Netzwerkkomponenten haben sich die Reaktionszeiten erheblich verkürzt – wir reden im Regelfall von Zeiten zwischen 100 bis 250 Millisekunden.
Dabei arbeitet man mit sogenannten Vorab-Schaltpunkten, die verhindern, dass eine Palette automatisch stoppt und neu anfahren muss, bevor sie ein neues Routing zugewiesen bekommt. Erreicht etwa die Vorderkante einer Palette einen Vorab-Schaltpunkt, wird eine Anfrage an den MFR gesendet und noch bevor die Palette überhaupt merklich langsamer wird, hat sie bereits die neuen Koordinaten erhalten und fährt weiter.
Früher haben die Speicherprogrammierbaren Steuerungen, kurz SPS, dieses Routing mit übernommen. Sie hatten zwar eine gewisse Materialflussrechner-Funktionalität implementiert bekommen, doch die Vorfahrtsregelungen waren dabei stark eingeschränkt. Mit einem MFR ergeben sich, dank der Datenbankfunktionalität, deutlich mehr Möglichkeiten und die heute nötige Entscheidungsintelligenz.
Durch diese Intelligenz im MFR können heute im Schnitt 6.000 Ladungsträger gleichzeitig transportiert beziehungsweise bewegt werden, vor 20 Jahren waren es vielleicht noch 100 bis 200 Einheiten.
Bei 6.000 Behältern müssen jede Sekunde unzählige Entscheidungen getroffen werden. Wie kann das funktionieren?
Clemens Gutbrod: Das ist wahrlich eine echte Herausforderung. Betrachtet man den Leistungsumfang von MFR-Software im Vergleich zu einem Warehouse-Management-System (WMS), ist dieser zwar um einiges geringer. Doch MFR-Software löst eben nur eine spezielle Herausforderung: Sie verarbeitet in einer unglaublichen Frequenz eine fast schon ‚irrsinnige‘ Menge von Anfragen. Die Anfragen an sich sind alle relativ einfach gestrickt, aber man muss die Prozesse richtig designen, damit diese reibungslos ineinandergreifen. Das ist der ganze Trick an der Sache, den wir an dieser Stelle natürlich nicht verraten.
Ein Materialflussrechner steuert also auf intelligente Weise den Warenfluss im Lager von A nach B. Ist es damit getan, oder gibt es noch weitere Funktionen, die ein MFR erfüllt und in Zukunft erfüllen muss?
Clemens Gutbrod: Einen klassischen MFR als reine ‚Fahrmaschine‘ wird es in naher Zukunft nicht mehr geben. Heutzutage muss ein MFR auch immer sogenannte MFR-nahe Funktionen steuern, egal ob als Stand-alone-Lösung oder innerhalb des WMS-Umfelds. Sie gehören streng genommen nicht zu den Kernfunktionalitäten, sind aber sehr wichtig für den Materialfluss im Lager. Dazu zählen Vorgänge wie die Rückführung von Leerwannen oder auch die Ressourcenauswahl. Das Zusammenhalten von Wannenzügen fällt ebenfalls darunter und ebenso die Auswahl von Pack- oder Arbeitsplätzen auf Grundlage verschiedener Anforderungen. Letztere werden spezifisch den aktuellen Begebenheiten angepasst.
Dabei definiert das WMS den Auftrag mit seinen individuellen Anforderungen. Wird zum Beispiel eine Greif-Hebe-Hilfe benötigt, sucht der Materialflussrechner nur Arbeitsplätze aus, die über solche Spezifikationen verfügen. Die genaue Auswahl eines Arbeitsplatzes erfolgt dann nach weiteren Kriterien, beispielsweise nach der Menge des Arbeitsvorrates. Das sind alles MFR-nahe Funktionen, die auf dieselbe Software zugreifen, wie auch die darunterliegende ‚Fahrmaschine‘ – und der Funktionsumfang steigt im Hinblick auf die digitalen Transformation stetig.
Was sind aktuelle Herausforderungen der heutigen MFR-Welt? Was muss ein MFR derzeit leisten können?
Clemens Gutbrod: Technologisch am anspruchsvollsten ist, wie bereits erwähnt, die hochfrequente, schnelle Beantwortung von Anfragen. Ansonsten sehe ich aktuell die größte Herausforderung darin, nach wie vor für jede weitere Entwicklung beziehungsweise Technologie der Branche offen zu sein und den MFR entsprechend zu adaptieren. Gerade vor dem Hintergrund, dass viele neuentwickelte Geräte immer intelligenter und leistungsfähiger werden, müssen MFR-Anbieter ihre Schnittstellen so entwickeln, dass sie sich jederzeit neuen Begebenheiten anpassen können. So ist der Markt von Maschinenherstellern getrieben – auf die ständig neue Lagertechnik müssen wir zeitnah reagieren können. Die Technologie selbst ist dabei sogar egal, man muss sie nur steuern können.
Etwa im Hinblick auf das Transport-Queue-Management hat TUP deshalb die Transport-Queues offen ins System integriert, damit jederzeit für jeden beliebigen Einsatz ein neuer Transport-Queue programmiert werden kann. Das ermöglicht neue Entscheidungswege und -möglichkeiten für den MFR, ohne, dass überhaupt an der Grundstruktur des MFR selbst Änderungen vorgenommen werden müssen. Diese Art Anpassungen sind sogar im laufenden Betrieb möglich.
So viel zu den Herausforderungen der Gegenwart. Durch die Digitalisierung sind viele Bereiche, auch in der Intralogistik im Umbruch. Wie sieht der Materialflussrechner der Zukunft aus?
Clemens Gutbrod: Im Hinblick auf IoT und Fahrerlose Transportsysteme (FTS) wird sich in Zukunft einiges tun. Wobei sich die Software für den Materialfluss dazu gar nicht großartig verändern muss. Der Grundgedanke einer Steuerung von A nach B bleibt gleich. Lediglich die Technik ist eine andere. Deshalb muss ein MFR immer, wie bereits erwähnt, auch Zukunftstechnologien unterstützen. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Fahrzeugsteuerung an sich eine Blackbox und von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich ist. Solange man diese über Schnittstellen an den MFR anbinden kann, lässt sich jedes Transportmittel problemlos integrieren.
Für interessant halte ich auch Ergebnisse, die sich aus der Wissenschaft der Durchflusskontrolle ergeben. In den letzten Jahren gab es eine Art Revival dieser Fachrichtung durch die Nutzung der Erkenntnisse im Bereich des Verkehrsmanagements in Städten. Hierbei werden Verkehrsströme unter Nutzung von Grün- und Rotphasen optimal gesteuert. Da gibt es hochinteressante Ansätze, die auch im Bereich der Intralogistik wertvoll sein können – gerade in Hinblick auf den Materialfluss. Problematik: Dafür bräuchte man in Lagern allerdings Redundanzen für Ausweichfahrten; diese plant aber heutzutage niemand, weil sie zu kostenintensiv sind.
Für einen Irrweg halte ich dagegen das sogenannte Online-Routing. Dabei werden die Routen zum Zeitpunkt der Anfrage aktuell berechnet – inklusive allen zeitfressenden Latenzen.
Herr Gutbrod, Sie haben die MFR-Entwicklung bei DR. THOMAS & PARTNER von Beginn an mitgestaltet. Man könnte also sagen, dass Sie „den Dreh raus haben“. Welche Vorteile hat der Materialflussrechner von TUP (TUP.MFR) als Stand-alone-Lösung und welche als integrierter Baustein in einem Warehouse Management System?
Clemens Gutbrod: Das Grundprinzip des TUP.MFR ist nun fast 30 Jahre alt. Wir haben ihn mittlerweile so weit entwickelt, dass wir aus dem Stand eine 75 bis 80 prozentige Zuverlässigkeit hinbekommen. Damit können wir unseren Kunden eine unglaubliche Stabilität bieten.
Das Besondere beim TUP.MFR ist zweifelsohne die integrierte Schnittstelle TP-RADT (Reliable Application Data Transfer). Mit ihr ist es möglich, die nötige Intelligenz für einen reibungslosen Materialfluss im MFR zu bündeln. Zum einen kann die SPS-Anlage somit ohne eigene Routingfähigkeit gesteuert werden. Zum anderen kann der TUP.MFR dadurch auf Kundenwunsch auch als Stand-alone-Lösung installiert werden. Als solche ist der TUP.MFR sehr leicht in Betrieb zu setzen. Man definiert die im Lager eingesetzte Hardware über die Matrix, richtet die Kommunikationsschnittstellen zu den SPSen ein und schon kann es losgehen. Grundsätzlich lassen wir keine Intelligenz unterhalb der MFR-Funktionalität zu. So bleiben wir herstellerunabhängig und Kunden benötigen so nur einen Ansprechpartner für alles.
Danke für das Gespräch.
Ein älteres Gespräch mit Herrn Gutbrod finden Sie unter: MFR-Chef-Entwickler Clemens Gutbrod über Materialfluss und modulare Software